476. An Schiller

Weimar, den 16. Mai 1798

Ihr Brief trifft mich wieder bei der Ilias. Das Studium derselben hat mich immer in dem Kreise von Entzückung, Hoffnung, Einsicht und Verzweiflung durchgejagt.

Ich bin mehr als jemals von der Einheit und Untheilbarkeit des Gedichts überzeugt und es lebt überhaupt kein Mensch mehr, und wird nicht wieder geboren werden, der es zu beurtheilen im Stande wäre. Ich wenigstens finde mich allen Augenblick einmal wieder auf einem subjectiven Urtheil, so ist’s andern vor uns gegangen und wird andern nach uns gehen. Indessen war mein erstes Apperçu einer Achilleis richtig, und wenn ich etwas von der Art machen will und soll, so muß ich dabei bleiben.

Die Ilias erscheint mir so rund und fertig, man mag sagen was man will, daß nichts dazu noch davon gethan werden kann. Das neue Gedicht das man unternähme, müßte man gleichfalls zu isoliren suchen und wenn es auch, der Zeit nach, sich unmittelbar an die Ilias anschlösse.

Die Achilleis ist ein tragischer Stoff, der aber wegen einer gewissen Breite eine epische Behandlung nicht verschmäht.

Er ist durchaus sentimental und würde sich in dieser doppelten Eigenschaft zu einer modernen Arbeit qualificiren, und eine ganz realistische Behandlung würde jene beide innern Eigenschaften in’s Gleichgewicht setzen. Ferner enthält der Gegenstand ein bloß persönliches und Privatinteresse, dahingegen die Ilias das Interesse der Völker, der Welttheile, der Erde und des Himmels umschließt.

Dieses alles sey Ihnen an’s Herz gelegt! Glauben Sie daß, nach diesen Eigenschafen, ein Gedicht von großem Umfang und mancher Arbeit zu unternehmen sey, so kann ich jede Stunde anfangen, denn über das Wie der Ausführung bin ich meist mit mir einig, werde aber nach meiner alten Weise daraus ein Geheimniß machen, bis ich die ausgeführten Stellen selbst lesen kann.

Von einer unerwartet erfreulichen Novität habe ich keine Ahnung noch Muthmaßung, doch soll sie mir ganz willkommen seyn. Es ist nicht in meinem Lebensgange daß mir ein unvorbereitetes, unerharrtes und unerrungenes Gute begegne. Vor Sonntag kann ich leider nicht kommen.

Grüßen Sie Cotta schönstens und danken ihm noch für alle mir so liberal erwiesenen Gefälligkeiten. Ich bin noch wegen einigem in seiner Schuld, welches abzurechnen ja wohl bald Gelegenheit seyn wird.

Übrigens gedenke ich, wegen unserer theoretisch empirischen Aufsätze, den Gang den ich neulich anzeigte zu befolgen; sobald etwa ein Alphabet rein abgeschrieben parat liegt, wird man leicht überein kommen.

Ich will künftig so viel als möglich kein Manuscript versagen, bis es zum Abdruck fertig ist, und besonders bei diesem kommt so mancherlei zusammen.

Schlegeln kann die Professur wohl nicht fehlen; der Herzog ist ihm wegen der Shakespearischen Übersetzung günstig, es ist auch schon beifällig deßhalb nach Gotha communicirt.

Leben Sie recht wohl, Ich verlange herzlich Sie zu sehen und etwas Bedeutendes zu arbeiten. Es wird nun bald ein Jahr daß ich nichts gethan habe, und das kommt mir gar wunderlich vor. Grüßen Sie Ihre liebe Frau und erfreuen sich des schönen Wetters unter freiem Himmel.

G.

H 472 | S 466 | B 466