566. An Goethe

Jena, den 22. [recte: 21.]Dezember 1798

Ich bin sehr verlangend Kant’s Anthropologie zu lesen. Die pathologische Seite, die er am Menschen immer herauskehrt, und die bei einer Anthropologie vielleicht am Platze seyn mag, verfolgt einen fast in allem was er schreibt, und sie ist’s, die seiner praktischen Philosophie ein so grämliches Ansehen gibt. Daß dieser heitere und jovialische Geist seine Flügel nicht ganz von dem Lebensschmutz hat losmachen können, ja selbst gewisse düstere Eindrücke der Jugend etc. nicht ganz verwunden hat, ist zu verwundern und zu beklagen. Es ist immer noch etwas an ihm, was einen, wie bei Luthern, an einen Mönch erinnert, der sich zwar sein Kloster geöffnet hat, aber die Spuren desselben nicht ganz vertilgen konnte.

Daß die Aristokraten auf eine Schrift wie Boufflers nicht so ganz gut zu sprechen sind, will ich wohl glauben. Sie würden weit mehr Wahrheiten aus dem Mund und der Feder eines bürgerlichen Schriftstellers ertragen. Aber es ist immer so gewesen, auch in der Kirche war die Ketzerei eines Christen immer verhaßter, als der Unglaube eines Atheisten oder Heiden.

Haben Sie in diesen Tagen nichts an dem Farbenschema mehr gemacht? Ich freue mich auch in dieser Rücksicht auf mein Hinüberkommen zu Ihnen, um in der Materie etwas weiter zu rücken. Schelling sah ich wöchentlich nur einmal, um, zur Schande der Philosophie sey es gesagt, meistens l’Hombre mit ihm zu spielen. Mir zwar ist diese Zerstreuung, da ich jetzt absolut keine andre habe, beinahe unentbehrlich geworden, aber es ist freilich schlimm, daß man nichts Gescheidteres mit einander zu thun hat. Indessen sobald ich nur ein klein wenig den Kopf wieder über Wasser habe, will ich etwas Besseres mit ihm anfangen. Er ist noch immer so wenig mittheilend und problematisch wie zuvor.

Von den abwesenden Freunden hab’ ich wieder lange nichts gehört. Humboldt wird, hoffe ich, nicht unter den Fremden sich befunden haben, die man in Paris arretirt hat.

Ich hatte Sie bitten wollen mir das Logis, worin Thouret gewohnt, auf drei oder vier Wochen vom Herzog auszubitten, wenn ich nach Weimar käme. Meine Schwägerin kann meine Frau mit den Kindern jetzt nicht wohl logiren und doch möchte ich von meiner Familie nicht so lang getrennt seyn, auch Ihnen mit mir nicht auf so lange Überlast machen. Freilich würden unsre wechselseitigen Communicationen dadurch etwas gehemmt, aber es käme nur auf eine Einrichtung an, so würde es schon gehen. Ich erbitte mir darüber Ihren Rath. Etwa in zwölf Tagen dächte ich hinüber zu kommen.

Ich sehe zwar kaum ein kleines Vorrücken in der Arbeit, denn bei dem Corrigiren der letzten Acte für den Theaterzweck bin ich auf weit mehr Schwierigkeiten gestoßen als ich erwartete, und diese Arbeit ist erstaunlich penibel und zeitverderbend.

Indessen wünsche ich Ihnen zum zurückgelegten kürzesten Tag, der in Ihrer Existenz eine gewisse Epoche zu machen pflegt, Glück.

Leben Sie recht wohl, herzlich gegrüßt von uns beiden.

Sch.

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