655. An Goethe

Jena, den 20. August 1799

Ich bin dieser Tage auf die Spur einer neuen möglichen Tragödie gerathen, die zwar erst noch ganz zu erfinden ist, aber, wie mir dünkt, aus diesem Stoff erfunden werden kann.

Unter der Regierung Heinrichs VII. in England stand ein Betrüger, Warbeck, auf, der sich für einen der Prinzen Eduard’s V. ausgab, welche Richard III. im Tower hatte ermorden lassen. Er wußte scheinbar Gründe anzuführen, wie er gerettet worden, fand eine Parthie, die ihn anerkannte und auf den Thron setzen wollte. Eine Prinzessin desselben Hauses York, aus dem Eduard abstammte, und welche Heinrich VII. Händel erregen wollte, wußte und unterstützte den Betrug, sie war es vorzüglich, welche den Warbeck auf die Bühne gestellt hatte. Nachdem er als Fürst an ihrem Hof in Burgund gelebt, und seine Rolle eine Zeitlang gespielt hatte, manquirte die Unternehmung, er wurde überwunden, entlarvt und hingerichtet.

Nun ist zwar von der Geschichte selbst so gut als gar nichts zu gebrauchen, aber die Situation im Ganzen ist sehr fruchtbar, und die beiden Figuren des Betrügers und der Herzogin von York können zur Grundlage einer tragischen Handlung dienen, welche mit völliger Freiheit erfunden werden mußte. Überhaupt glaube ich, daß man wohl thun würde, immer nur die allgemeine Situation der Zeit und die Personen aus der Geschichte zu nehmen, und alles übrige poetisch frei zu erfinden, wodurch eine mittlere Gattung von Stoffen entstünde, welche die Vortheile des historischen Dramas mit dem erdichteten vereinigte.

Was die Behandlung des erwähnten Stoffs betrifft, so müßte man, däucht mir, das Gegentheil von dem thun, was der Komödiendichter daraus machen würde. Dieser würde durch den Contrast des Betrügers mit seiner großen Stelle und seine Incompetenz zu derselben das Lächerliche hervorbringen. In der Tragödie müßte er als zu seiner Stelle geboren erscheinen, und er müßte sie sich so sehr zu eigen machen, daß mit denen, die ihn zu ihrem Werkzeug gebrauchen und als ihr Geschöpf behandeln wollten, interessante Kämpfe entstünden. Es müßte ganz so aussehen, daß der Betrug ihm nur den Platz angewiesen, zu dem die Natur selbst ihn bestimmt hatte. Die Katastrophe müßte durch seine Anhänger und Beschützer, nicht durch seine Feinde, und durch Liebeshändel, durch Eifersucht und dergleichen herbeigeführt werden.

Wenn Sie diesem Stoff im Ganzen etwas Gutes absehen und ihn zur Grundlage einer tragischen Fabel brauchbar glauben, so soll er mich bisweilen beschäftigen, denn wenn ich in der Mitte eines Stücks bin, so muß ich in gewissen Stunden an ein neues denken können.

Für den Almanach geben sie mir keine tröstlichen Aussichten. Was die Kupfer betrifft, so habe ich meine Hoffnung nicht auf die Güte des Kupferstichs gebaut, man ist ja hierin gar nicht verwöhnt, und da diese Manier im Ganzen gefällt, die Zeichnung zugleich verständig entworfen ist, so werden wir uns doch damit sehen lassen dürfen. Die Bemerkung, die Sie über das Gedicht selbst machen, ist mir bedenklicher, besonders da mir etwas ähnliches selbst dabei geschwant hat. Noch weiß ich nicht wie Rath geschafft werden soll, denn meine Gedanken wollen sich gar noch nicht auf etwas Lyrisches wenden.

Auch ist es ein schlimmer Umstand, daß wir zu den anzuhängenden kleinen Gedichten einen sehr kleinen Raum übrig behalten, der also nothwendig mit bedeutenden Sachen muß ausgefüllt werden. Sobald ich meinen zweiten Act fertig habe, werde ich ernstlich an diese Sache denken.

Leben Sie wohl, meine Frau grüßt Sie auf’s beste.

Sch.

H 647 | S 645 | B 648